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Titel
Die Sportpalast-Rede 1943. Goebbels und der „totale Krieg“


Autor(en)
Longerich, Peter
Erschienen
München 2023: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norman Domeier, Philosophische Fakultät, Karls-Universität Prag

Joseph Goebbels‘ Sportpalastrede vom 18. Februar 1943 mit seiner gebrüllten Leitfrage „Wollt ihr den totalen Krieg?“ gilt noch heute, 80 Jahre später, als Musterbeispiel der Nazipropaganda und sogar als ein Meisterwerk propagandistischer Verführungskunst und rhetorischer Massensuggestion in der Weltgeschichte. Die Rede wurde geradezu enthistorisiert und ins Zeitlose sublimiert, wozu nicht zuletzt ihre meist rein textimmanente Analyse im Schulunterricht und ihr schnipselhafter Gebrauch in millionenfach gesehenen Fernsehdokumentationen beiträgt.

Peter Longerichs kleine Studie zur „Sportpalastrede“ – in der Berliner Mehrzweckhalle hielt Goebbels unzählige Reden, und man sprach in NS-Deutschland schon in den 1930er-Jahren von einer „Sportpalast-Stimmung“ – ist ein Derivat seiner umfangreichen Arbeiten zum „Dritten Reich“, speziell seiner Goebbels-Biographie.1 Sie ist wichtig, um das Ereignis nicht zuletzt als transnationales Medienereignis historisch zu kontextualisieren und die seit langem begonnene Mythisierung von Rede und Person des NS-Propagandaministers einzuhegen. Longerich sieht hierfür vor allem die Rekonstruktion der politischen Vorgeschichte und der oft überschätzten Auswirkungen der Veranstaltung als entscheidend an.

Wie Longerich zeigt, war das Ereignis sorgfältig inszeniert und choreographiert, das Publikum handverlesen. Von einer spontanen Akklamation eines repräsentativen Teils des deutschen Volkes zur Idee des „totalen Krieges“ kann keine Rede sein. Auch wenn für jene Jahre bekanntlich keine Demoskopie vorliegt, legen viele autobiographische Quellen nahe, dass es in der deutschen Bevölkerung neben Zustimmung auch viel Skepsis, Sarkasmus und Kritik an der Rede gab. Vor allem in den „bevorzugten“ Kreisen, gegen die Goebbels in konsequenter Verfolgung seiner klassenkämpferischen Allüren hetzte, stieß die Rede auf Ablehnung; die bis heute als rhetorisches Kernstück betrachteten „10 Fragen“ zum totalen Krieg empfand man etwa als billige Kopie religiöser Katechismen.

Inhaltlich enthält die Rede zwei bemerkenswerte Punkte, die weder von allen Zeitgenossen als wichtig erachtet wurden, noch heute immer klar herausgestellt werden. Zum einen räumte Goebbels den nicht nur geopolitisch-militärischen, sondern weltanschaulichen Hauptfehler Hitlers und des Nationalsozialismus als Bewegung ein, sich in der Kraft der Sowjetunion, des Bolschewismus, „der Steppe“ völlig geirrt zu haben: „Es ist verständlich, dass wir bei den groß angelegten Tarnungs- und Bluffmanövern des bolschewistischen Regimes das Kriegspotenzial der Sowjetunion nicht richtig eingeschätzt haben. Erst jetzt offenbart es sich uns in seiner ganzen wilden Größe. Dementsprechend ist auch der Kampf, den unsere Soldaten im Osten zu bestehen haben, über alle menschlichen Vorstellungen hinaus hart, schwer und gefährlich.“

Zum anderen entging vielen Zeitgenossen, wie schon bei der berüchtigten Hitler-Rede am 30. Januar 1939, in welcher der Diktator die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ prophezeite, dass Goebbels die massenhafte Ermordung der europäischen Juden (einmal mehr) bestätigte. Goebbels „versprach“ sich bewusst, wie Longerich anhand der Tonaufnahme nachweist, und gebrauchte den Begriff „Ausrottung“, um diesen dann in „Ausschaltung“ abzumildern (die vom Deutschen Nachrichtenbüro verbreitete offiziöse schriftliche Fassung enthält „Ausschaltung“). Der „Versprecher“ fügte sich nahtlos in die von Goebbels seit Jahren geübte Medienpolitik ein, die in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit kursierenden Informationen über die systematische Ermordung der Juden nicht etwa zu dementieren, sondern zu bestätigen. Ziel war es nach innen, eine Art Schuldgemeinschaft zu erzeugen, die nur ein „Endsieg“ vor gewaltiger Rache retten konnte.2 Nach außen, für Goebbels vielleicht noch wichtiger, sollte der auch bei Amerikanern und Briten verbreitete Antisemitismus aktiviert und als Keil zwischen den Alliierten verwendet werden. Militärische Angriffe auf die Zufahrtswege und Infrastruktur der Vernichtungslager wären Goebbels nach seinem Propagandamotto „Die Alliierten führen den Krieg für die Juden!“ willkommen gewesen. Aber sie erfolgten bekanntlich nie.3

Als transnationales Medienereignis ist die Rede quellenmäßig sehr gut greifbar und in ihrer Wirkung analysierbar. Hier stützt sich Longerich weitgehend auf die nun ein Vierteljahrhundert alte Studie von Iring Fetscher.4 In den Tagen nach der Rede berauschte sich Goebbels förmlich an dem Medienecho im In- und Ausland. Die Rede sei „eine Sensation erster Klasse und nimmt die Schlagzeilen und die ersten Seiten wohl sämtlicher Zeitungen in der Welt für sich in Anspruch“ (Goebbels-Tagebücher, 20. Februar 1943). In Wirklichkeit war die „Weltsensation“, die sich Goebbels erhofft hatte, in den meisten Teilen der Welt ein Rohrkrepierer. In den Öffentlichkeiten der Kriegsgegner, die für ihn am wichtigsten waren, wurde sie regelrecht abgefertigt. In der britischen Presse, vor allem im Flaggschiff „Times“, wurde sie nur in kurzen Meldungen unter ferner liefen berichtet. Die „New York Times“ machte immerhin groß mit ihr auf und druckte auch Teile des Redetextes ab. In der amerikanischen Presse wurde jedoch vielfach alles, was direkt von Goebbels kam, seit Jahren nur noch mit Ironie kommentiert und als Unterhaltungsfaktor im (Medien-)Krieg angesehen.

Entscheidend ist, dass die Sportpalastrede eben nicht nur die Deutschen zusammenschweißen sollte. Trotz aller Autosuggestion in seinen Tagebüchern über ihre „großartige“ Wirkung nach innen, scheint Goebbels 1942/43 klar gewesen zu sein, dass nur noch Krieg und Terror die imaginierte „Volksgemeinschaft“ zusammenhielten. Er selbst wurde in der Bevölkerung noch nie zu den populären Nazi-Politikern gezählt, viele misstrauten ihm und seiner „Verführungskunst“, zumal einige seiner großen Propagandaaktionen nach 1939 krachend gescheitert waren.

Vielmehr war die Rede an die ganze Welt gerichtet. Gleich zu Beginn verkündete Goebbels: „Ich wende mich in meinen Ausführungen zuerst an die Weltöffentlichkeit und proklamiere ihr gegenüber drei Thesen unseres Kampfes gegen die bolschewistische Gefahr im Osten.“ Hunderte Male beschwor Goebbels auch in seinen Tagebüchern die „Weltöffentlichkeit“, die es für den Nationalsozialismus zu gewinnen galt – komplementär zur militärischen Eroberung der Welt nach Hitlers Plänen. Und selbst vor seinen „10 Fragen“, die nur an die Deutschen gerichtet schienen, sprach Goebbels direkt „die englische und amerikanische Presse“ als seine eigentlichen Kontrahenten in diesem Krieg an.

Für Peter Longerich ist die Rede eher als Teil eines Machtkampfes innerhalb der NS-Führung auf dem Höhepunkt ihrer bis dahin größten Sinnkrise relevant. Das Kriegsglück, das jahrelang die deutsche Wehrmacht von Erfolg zu Erfolg eilen sah, hatte sich spätestens Anfang 1943 endgültig den Alliierten zugeneigt. Ob Goebbels mit der Rede sogar eine Konfrontation mit Hitler selbst suchte, wie Longerich vermutet, scheint angesichts seiner narzisstischen Liebe für Hitler und der emotionalen Abhängigkeit vom „Führer“ fragwürdig. Anscheinend ging es Goebbels eher darum, Hitler aus seiner „innerpolitischen“ Lethargie und vom Einfluss unliebsamer Nebenbuhler zu befreien. „Wir sprechen zwar von einer totalen Kriegführung, wir führen sie aber praktisch nicht durch.“ (Goebbels-Tagebücher, 1./2. Oktober 1942) Es sei nun an der Zeit, sich „mehr in die Öffentlichkeit zu flüchten“, erläuterte er im Tagebuch seine Taktik. „Die öffentliche Meinung ist immer ein guter Bundesgenosse.“ (Goebbels-Tagebücher, 28. Januar 1943)

Die Polykratie des NS-Staates verhinderte in der Tat nennenswerte Wirkungen der Sportpalastrede. Sie blieb weitgehend Appell. Die wenigen in ihr enthaltenen konkreten Vorschläge wurden von der „Bürokratie“, die Goebbels als seinen inneren Hauptgegner ausgemacht hatte, vereitelt. Maßnahmen wie das Ende der „Schönheitspflege“ für die deutschen Frauen während des Krieges wurden von Hitler persönlich als zu negativ für die Stimmung an der Heimatfront vom Tisch gewischt.

Peter Longerich hat eine nützliche kleine Studie inklusive Textdokumentation (nach dem gesprochenen Wort) vorgelegt, deren zentrale Erkenntnisse hoffentlich vor allem die Nutzung und Deutung der Sportpalastrede im Schulunterricht modernisieren werden. Von einer abschließenden Erforschung kann aber noch immer keine Rede sein, denn verschiedene Kontexte sind nach wie vor ungeklärt. Die von Longerich für besonders wichtig gehaltene Verortung der Rede in internen Machtkämpfen des NS-Regimes wird (arbeitsökonomisch verständlich) ausschließlich aus einer Quelle rekonstruiert: den Goebbels-Tagebüchern. Selbst bei kritischer Haltung zu dieser zentralen Quelle des „Dritten Reiches“ setzt sich auf diese Weise meist die Perspektive von Goebbels durch, oder es entsteht ein Zirkelschluss, der den Satan mit dem Beelzebub austreiben will. Goebbels‘ Konkurrenten, Gegner und Feinde werden von Longerich namentlich genannt, aber kommen nie selbst zu Wort mit ihren Einschätzungen der Leistungen von Goebbels im Allgemeinen und seiner Rede im Besonderen. Ganz außen vor bleibt bei diesem Ereignis und seiner begrenzten Wirkung merkwürdigerweise Goebbels‘ ärgster Feind, Außenminister Joachim von Ribbentrop. Gerade für die Verbreitung und Ausnutzung der Rede in der „Weltöffentlichkeit“ wäre der Apparat des Auswärtigen Amtes von entscheidender Bedeutung gewesen. Offenkundig ging sie hier ebenfalls in den Friktionen zwischen den beiden Kontrahenten unter. Auch die bereits erwähnten Reaktionen in der internationalen Presse beschränken sich nach wie vor auf die Stichproben Iring Fetschers. Dank der Digitalisierung der Pressequellen sollte es hierzu systematische Studien geben, die auch den Binnenraum der NS-Öffentlichkeit einbeziehen.

Bis dahin werden wir die Sportpalastrede weiterhin als eines der vielen propagandistischen Wunschbilder der nationalsozialistischen Bewegung ertragen müssen, die erst nach 1945 durch mediale Repetition, Ausschnitthaftigkeit und Entkontextualisierung zu historischen „Erfolgen“ und geradezu zeitlosen „Meisterwerken“ der Rhetorik gemacht wurden und immer noch werden.

Anmerkungen:
1 Peter Longerich, Goebbels. Biographie, München 2010.
2 Zur zusammenschweißenden Wirkung der Verkündung des Judenmords nach innen (bei Tabuisierung der „technischen Details“): Peter Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945, München 2006.
3 Zu Goebbels‘ (Medien-)Politik mit dem Judenmord, etwa durch den agent provocateur Ernst Lemmer, siehe: Norman Domeier, Weltöffentlichkeit und Diktatur. Die amerikanischen Auslandskorrespondenten im „Dritten Reich“, Göttingen 2021.
4 Iring Fetscher, Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast 1943. „Wollt ihr den totalen Krieg?“, Hamburg 1998.

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